In einer nahen, entmenschlichten Zukunft begleitet Sibylle Berg in GRM - Brainfuck vier Jugendliche, die sich den Schlägen des Lebens alleine stellen müssen. Don, Hannah, Karen und Peter leben in
einer vergessenen englischen Stadt, sie sind gerade noch nicht erwachsen, doch absolut ungeschützt. Sie leben in einem Herrschaftssystem, in dem es für sie keinen Platz hat, das System versagt an
ihnen. Individuen wie sie werden vom System bis zur Vergessenheit ruhig gestellt. Sie finden sich im Morast von Gewalt, Armut, Verlassenheit, Überwachung, sie geben sich so etwas wie Halt, den
sie sich aber eigentlich nicht geben können.
Wir lesen ihre Leben mit kaum aushaltbarer Schonungslosigkeit - weder den Protagonisten noch den Lesenden wird irgendetwas geschenkt oder erleichtert. Die Beobachtungen Bergs sind emotionslos,
rational, entmenschlicht. Die künstliche Intelligenz, die sich am Buch beteiligt und in der Programmiersprache Brainfuck ausdrückt, das Geschehene kommentiert, scheint vom Elend zu lernen,
scheint aber auch den Blick auf die Menschen wiederzugeben.
Ich habe selten ein Buch gelesen, dem Empathie für seine Protagonisten so gänzlich fehlt - und das meine ich im besten Sinne! Ich bin es gewohnt, dass mir die Autorin die Last der Gefühle etwas
abnimmt. In diesem Sinne war GRM für mich eine Offenbarung: Die Opfer nehmen mir das Fühlen nicht ab, ich kann keine Hoffnung aus ihren Emotionen ableiten, ich muss einfach aushalten. Und das ist
schwierig! Einerseits werden wir im Umgang mit negativen Emotionen weniger geübt, der Fokus wird in der Regel auf das Positive gelegt, nicht selten sollen wir uns beruhigen, wird unsere Trauer
weggetröstet und andererseits haben wir oft das Privileg, wegzusehen, uns zu entlasten. Wir schauen oft nur auf einen - für uns aushaltbaren - Teil des Unglücks. Nur hat nicht jeder dieses
Privileg!
Die Protagonisten in Bergs Dystopie haben keine Chance, keine Hoffnung, keinen Ausweg und wer das Buch liest, wird von der Tatsächlichkeit des Elends überrollt. Der Inhalt des Buches ist eine
Triggerwarnung in sich.
Auch sprachlich ist Sibylle Berg sehr moderne Wege gegangen. Die Perspektivenwechsel sind fliessend: Die letzten Sätze bleiben unvollendet, um dann aus der nächsten Perspektive weitergeführt zu
werden, es entsteht der Eindruck von Überblendung. Die Absenz der Beschreibung der Gefühle der Charakteren lässt den Eindruck entstehen, dass es sich um einen kalten Text handelt, für mich ein
Mittel, den Leser in die Pflicht zu nehmen. Und - der Titel macht es offensichtlich - GRM hat den Rhythmus und Sound von Grime.
GRM ist ein schweres, belastendes Buch, das Eindruck macht, das Zeit zum Verarbeiten braucht, es ist ein Buch das in mir gärt. Ein Buch, das mich beschäftigt und begleitet. Ein Buch, das
ausgehalten werden muss. Ein Buch, das ich lesen musste.
GRM - Brainfuck, Sibylle Berg
640 Seiten
erschienen im April 2019 bei Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-462-05143-8
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